Die Grundregeln der Stereoskopie Von Dr. Lüscher
Das Ziel einer guten Stereo-Aufnahme ist eine möglichst naturgetreue Wiedergabe des Gesehenen, insbesondere bezüglich seiner
räumlichen Gliederung. Bei der Aufnahme stellen die Lichtstrahlen zwischen den Objektpunkten und den an die Stelle der Augen getretenen beiden Aufnahme-Objektiven zwei Strahlenbündel dar, von denen sich immer zwei
zugehörige Strahlen in den betreffenden Objektpunkten schneiden. Denken wir uns jetzt das Objekt entfernt und den Strahlengang der Aufnahme rückwärtig etwa durch einen Projektionsapparat wieder hergestellt, so
ergibt die Gesamtheit der Schnittpunkte aller zugeordneten Strahlen ein dem Original gleiches optisches Raum-Modell, vorausgesetzt, daß die Lage der Strahlenbündel im Raum zueinander im Vergleich zur Aufnahme nicht
verändert wurde. Die Einhaltung der gleichen Lage der Strahlenbündel bei Aufnahme und Betrachtung ist die Grundbedingung für eine geometrisch naturgetreue (tautomorphe) Wiedergabe. Wenn anders, so kommen entweder
die dazu gehörigen Strahlen überhaupt nicht zum Schnitt und der Stereo-Effekt bleibt aus, oder sie schneiden sich an einem anderen Ort, was räumliche Verzerrungen des Originals (heteromorphe Raumbilder), auf die
hier aus Platzmangel nicht weiter eingegangen werden kann, zur Folge haben würde. Diese geometrischen Verhältnisse sowie die psychologischen Vorgänge beim ein- und beidäugigen Sehen führen zur Aufstellung folgender
Grundregeln:
a) Die Bilder müssen die gleichen Sehwinkeldifferenzen (Parallaxen) aufweisen, wie beim freien Sehen. Dies ist nur dann der Fall, wenn sie von zwei um den Augenabstand (in mittel 65 mm) zu
voneinander entfernten Standpunkten aufgenommen werden.
b) Bei der Betrachtung müssen die gleichen Sehwinkel wie bei der Aufnahme erhalten bleiben. Diese Forderung wird am einfachsten dadurch erfüllt, daß wir
den Aufnahmevorgang genau umkehren. Einmal müssen daher die Teilbilder in einem Abstand von den Augen betrachtet werden, der gleich der Bild- bzw. Brennweite der Aufnahme ist, und andererseits entsprechend der
Aufnahme in einer Ebene und mit einem Abstand der Bildmitten bzw. ferner Bildpunkte von 65 mm montiert werden.
c) Die Bildachsen der Teilbilder bei der Betrachtung (Verbindung der Bildmitte mit der
Linsenmitte) müssen die gleiche Richtung einnehmen, wie die Bildachsen bei der Aufnahme. Diese Forderung bedeutet, daß für die Betrachtung nicht nur, wie schon unter b) verlangt, die Teilbilder im Abstand der
Aufnahmeobjektive montiert sein müssen, sondern auch in den Betrachter, beispielsweise ein Linsenstereoskop, so einzulegen sind, daß die Linsenachsen die Bildmitten treffen. In Abb. 1 bedeuten A1 und Ar die
Betrachterlinsen und ml und mr die Bildmitten. Die Bildachsen AI, ml und Ar, mr stehen rechtwinklig auf der Bildebene und haben den Abstand zweier ferner Punkte,
d. h. den Objektivabstand. Die Bilder eines Gegenstandes, beispielsweise 11, 21, 31 und 1 r, 2r, 3r ergeben die richtige Raumvorstellung des Dreiecks 1, 11, 111. Verschieben wir aber die Linsenmitten gegen die
Teilbilder seitlich, so daß die ersteren in die Lage A'1 und A'r zu liegen kommen, so erscheint nunmehr der dem Bildpunkte ll, 21, 31 und lr, 2r, 3r zukommende räumliche
Eindruck nach I', I I', III' seitlich verschoben und verzerrt, und zwar tun so mehr, je größer die Abweichung von der Normalstellung ist. In ähnlicher Weise tritt auch eine Verzerrung auf, wenn die Bild- und Linsenmitten in der
Höhe nicht genau entsprechen, also beispielsweise wie in Abb. 2 dargestellt, anstatt von dem Punkt A von einem gegen die Bildmitte m höhergelegenen Punkt A' betrachtet
wird. Solange eine solche Höhenverzerrung in mäßigen Grenzen bleibt und vor allen auf beiden Teilbildern gleich groß ist, stören sie nicht allzu sehr. Dagegen wirken sie
sich bei einer Verschiedenheit zwischen linkem und rechtem Teilbild von nur wenigen Zehnteln eines Millimeters als sogenannte Höhenparallaxen aus und erschweren das räumliche Verschmelzen zu einem
einwandfreien stereoskopischen Effekt in hohem Grade. Daher ist:
d) Bei der Montage der Stereo-Bilder vor allem genau darauf achten, daß Höhenabweichungen der Teilbilder
voneinander unter allen Umständen vermieden werden.
e) Die Bildunterschiede (Parallaxen), die bei der Aufnahme nur parallel zur Verbindungslinie der Objektive (Basis) auftreten, müssen auch bei der Betrachtung
parallel zur Verbindung der Linsenmitte zu liegen kommen. Mit anderen Worten: Die Teilbilder sind so zueinander anzuordnen, daß ihre seitlichen Begrenzungen zueinander
parallel ausgerichtet und nicht, wie in Abb. 3 übertrieben dargestellt, in ihrer Ebene gegeneinander verkantet sind. Es entstehen sonst wiederum unliebsame Höhenparallaxen
(v), die den stereoskopischen Effekt störend beeinflussen.
f) Die Bilder müssen über den ganzen Aufnahmebereich scharf sein, weil das menschliche Auge einmal von zirka 3 m
Abstand ab alle Gegenstände scharf sieht und andererseits auch für nähere Entfernungen auf jeden angeblickten
Gegenstand sich sofort scharf einstellt (akkomodiert). „Künstlerische Unschärfen" sind im Stereobild unangebracht
und wirken immer unnatürlich. Zur Erzielung guter Raumwirkungen sollen aber gerade große Tiefengegensätze zur Abbildung gelangen. Um dies mit der nötigen Schärfe erreichen zu können, empfiehlt sich die Verwendung
kurzbrennweitiger Objektive, die bekanntlich große Tiefenschärfe aufweisen. Um die „richtige Perspektive" brauchen
wir uns im Gegensatz zum einlinsigen Lichtbild nicht zu kümmern. Sie wird ja später bei der Betrachtung durch die Linsen von selbst richtiggestellt.
g) Die im stereoskopischen Bild dargestellte Raumerstreckung (Tiefenzone) soll möglichst so bemessen sein, daß sie
auf einmal räumlich erfaßt werden kann. Die Sehwinkeldifferenz zwischen nächstem und fernstem Punkt darf keinen
größeren Betrag als 60 bis 70 Winkelminuten erreichen. Bei Landschaftsaufnahmen wird man also keinen näheren als
3 gelegenen Punkt mit abbilden und bei ausgesprochen Nahaufnahmen auf die Einhaltung der Tiefenzone besonders
achten müssen (Vergl. „Die Wahl der günstigst Basis bei Stereo-Fern- und Nahaufnahmen", von Dr. In Lüscher, Der Stereoskopiker Nr. 7, 1930).
h) Die Konvergenz der Sehstrahlen darf bei der Betrachtung der Stereobilder den maximalen Betrag der Konvergenz
der Augachsen bei freiem Sehen von zirka 2 nicht übersteigen und sie darf vor allem nicht negativ, werden, da Divergenz ein Zustandekommen des Raumeindrucks verhindert.
Bei Beachtung der vorstehend aufgeführten Grundregeln wird man immer eine naturgetreue und reine Raumwirkung
erzielen. Es geht dies sogar so weit, daß wir nicht einmal mehr die in der gewöhnlichen Photographie ängstlich
vermiedenen stürzenden Linien, wie sie beispielsweise bei Gebäudeaufnahmen mit geneigter Kamera entstehen, zu
fürchten brauchen. Wir müssen nur bei der Betrachtung die Linsenachse im gleichen Sinne wie bei der Aufnahme neigen.
Aus DER STEREOSKOPIKER, Nr. 5 vom 15. Jan. 1931. Organ der DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR STEREOSKOPIE e.V. (© Text überarbeitet von D. Schulte) |