Verbreitete Irrtümer über Stereoskopie
Von Wilhelm Hofinger, München

Auch in Fachkreisen begegnet man häufig den erstaunlichsten Ansichten über die eigentlichen Ursachen des Zustandekommens eines plastischen, räumlichen Bildes. Wenn uns nun diese Ursachen tatsächlich auch heute noch in ihrem Kernpunkt zum großen Teil unbekannt sind, rein mathematisch-geometrisch sind sie doch einwandfrei geklärt. Wir wissen genau, wann und bis, zu welcher Grenze gesehene Plastik auftreten kann und muß, wir können das Raumbild beliebig erzeugen, sogar vermessen und Modelle nach ihm herstellen.

Umsomehr nimmt es wunder, wie wenig Eingang diese geometrischen Grundlagen selbst bei Stereofreunden gefunden haben und vor allem, wie schwer es fällt, den So wird z. B. immer wieder behauptet, es sei bloß notwendig, von der gleichen Platte zwei Abzüge zu machen und dieselben dann nebeneinander im Stereoskop zu betrachten, um ein plastisches Bild zu erhalten, ja, es gibt sogar Menschen, die mit unbelehrbarem Eigensinn daran festhalten, daß sie nicht einmal zwei Bilder brauchen, um eine einfache, flächige Photographie räumlich zu sehen. „Ich halte das Bild im richtigen Abstand zu meinen Augen, und dann sehe ich es plastischer wie in jedem Stereoskop" lautet die hartnäckige Verteidigung dieses Standpunktes gewöhnlich. Ganz Schlaue „schließen ein Auge und fixieren das betrachtete Bild mit dem anderen".

All dies ist natürlich vollkommen ausgeschlossen. Tatsächlich kommt ja beim Betrachten von zwei Abzügen des gleichen Stereoskop meist eine gewisse bessere Tiefenwirkung zustande als beim gewöhnlichen Betrachten nur eines Abzuges, die aber mit wirklicher Plastik nie verwechselt werden darf. Sie hat ihre Ursachen zum Teil darin, daß die Kontrastwirkung der Lichter und Schatten durch das überlagern der zwei gleichen Bilder im Stereoskop etwas erhöht wird und durch die nie vermeidbaren winzigen Unterschiede der zwei Abzüge bei dieser Art der Betrachtung ein gewisses Luftflimmern erzeugt wird; ähnlich wie bei wirklichen Raumbildern. Zum Teil besteht sie aber auch in einer gewissen durch die Lupenwirkung der Stereoskop-Okulare verursachten besseren Lesbarkeit. Auch verschiedene Schrumpfung der beiden Bilder beim Trocknen kann scheinbare Plastik hervorrufen. Das hat aber mit wirklicher Räumlichkeit nicht das geringste zu tun, denn diese Art „Plastik" ist ja durch Zufälle bedingt und kann nur willkürlich auftreten, sie wird also höchstens irreführen und ist gänzlich wertlos dann, wenn man mit Hilfe räumlicher Betrachtung bestimmte Aufschlüsse über körperliche Einzelheiten des Aufnahmeobjektes gewinnen will.

Die zweite Ansicht beruht auf dem tatsächlich vorhandenen „günstigsten Betrachtungsabstand", der mit der Aufnahmebrennweite sowie dem Vergrößerungsmaßstab des betrachteten Bildes zusammenhängt. In diesem „günstigsten" Abstand betrachtet erscheint uns jedes flächige Bild am besten, auch räumlich, aber diese Räumlichkeit - ist ausschließlich durch psychologische, erfahrungsmäßige Schlüsse zu erklären, die jeder Mensch ganz unbewußt aus der Licht- und Schattenwirkung, dem unwillkürlichen Vergleich in ihrer Größe bekannter Strecken mit unbekannten, der perspektivischen Zeichnung usw. zieht. Meßbar oder auch nur irgendwie praktisch verwertbar ist auch diese „Plastik" nicht.

Der Eindruck eines wirklich räumlichen Bildes kann vielmehr einzig und allein dadurch entstehen, daß man unter Ausnützung der parallaktischen Disparation zwei Bilder desselben Aufnahmeobjektes von zwei verschiedenen Aufnahmestandpunkten aus aufnimmt und dieselben dann unter analogen Umständen gleichzeitig mit beiden Augen betrachtet. Gute Raumbildwirkung kann durch Erfahrungstatsachen wie Schattenformen, Perspektive, Luftperspektive, bekannte Größenverhältnisse usw. wohl unterstützt werden, beruht jedoch in keiner Weise auf demselben. Auf die drittgenannte Meinung komme ich später zurück.

Eine weitere ergiebige Quelle für falsche Ansichten über die Stereoskopie sind die Kopierrahmen für zusammenhängende Stereonegative, die oft unglückseligerweise „Umkehrrahmen" genannt werden. Dieselben haben bekanntlich den Zweck, die beiden im Aufnahmeapparat durch die zwei Objektive auf eine einzige Platte gleichzeitig nebeneinander aufgenommenen Teilbilder beim Kopieren in ihrer Lage vertauschen zu können.

Vielfach herrscht nun die Ansicht, diese Vertauschung sei deshalb notwendig, um bei der Betrachtung das links aufgenommene Bild vor das rechte Auge zu bringen und das rechts aufgenommene vor das linke. Das Gegenteil ist richtig! Da die beiden Teilbilder auf eine einzige Platte aufgenommen wurden, verfolgt die Vertauschung ja gerade den Zweck, bei der Betrachtung das linke Bild wieder vor das linke Auge zu bringen und das rechts aufgenommene vor das rechte Auge.

Ein klein wenig Nachdenken genügt, um sich über diesen Vorgang klar zu werden. Würde man die Platte mit den beiden Aufnahmen im Ganzen kopieren, dann würde sich das links aufgenommene Bild auf der Kopie nämlich vor dem rechten Auge befinden und umgekehrt.

Wenn man die beiden Teilbilder auf getrennte Platten aufnimmt, wie dies wohl stets bei Basisaufnahmen der Fall sein wird, dann ist diese nachträgliche Vertauschung natürlich nicht notwendig. Das wesentliche für die Notwendigkeit einer Vertauschung ist lediglich, ob die beiden Teilbilder auf eine zusammenhängende oder auf zwei einzelne Platten aufgenommen wurden.

Werden die beiden Teilbilder bei der Betrachtung nicht vor das ihnen zugehörige Auge gebracht, dann treten vollkommene Umkehrungen der Raumwerte ein, wir erhalten statt eines körperlichen Raumbildes sozusagen die hohle Form desselben, Erhöhungen erscheinen also in diesem Fall als Vertiefungen und umgekehrt. Das kann soweit gehen, daß sich von irgend einem Gegenstand teilweise verdeckte Körper bei derartig falscher Anordnung der Teilbilder in der Betrachtung vor diesem Gegenstand zu befinden scheinen, der sie doch verdeckt. Dieser Eindruck drängt sich dem Beschauer gegen seinen Willen und gegen jede bessere Überzeugung auf.

Sehr oft wird auch, wie ich schon oben sagte, behauptet, daß es sehr gut möglich sei, mit nur einem Auge plastisch zu sehen. Als Beweis wird vielfach auf den Maler hingewiesen, der ein Auge zukneift, wenn er irgend eine Linie besonders „deutlich" sehen will. Nun ist aber „deutlich" nicht gleich „plastisch". Der Maler macht bei solchen Vorgehen nämlich das Gegenteil: er schaltet die Plastik bewußt aus, weil er aus Erfahrung weiß, daß parallaktisches Sehen sozusagen ein Feind der scharfbegrenzten Linie ist. Die Schärfe der Linie nimmt bei monokularem Sehen zu. Daß man mit einem Auge nicht plastisch sehen kann, ist leicht zu beweisen.

Man halte sich ein Auge zu und versuche, einen Federhalter in ein von einer anderen Person auf den Tisch gestelltes Tintenfaß zu tauchen. Dieser Versuch wird erst nach mehrmaligem Probieren Erfolg haben, und dann nur deshalb, weil man durch die Fehlschläge Erfahrungen gesammelt hat, wie weit der Arm auszustrecken oder abzubiegen ist, um die richtige Entfernung zu finden. Noch eindrucksvoller ist vielleicht das Experiment mit den zwei Streichhölzern. Man nimmt dazu in jede Hand ein einzelnes Streichholz, schließt ein Auge und versucht dann mit gebeugten Armen (um die „Erfahrung" der Armlänge auszuschalten) die beiden Streichholzköpfe von den Seiten her so aneinanderzubringen, daß sie sich berühren. Dias wird mit einem Auge meistens mißlingen, mit beiden aber - also bei räumlichem Sehen erkennt man sofort, daß sich die beiden Enden in ganz verschiedenen Tiefenebenen bewegten.

Der wirkliche Stereoskopiker gerät daher auch immer wieder in Verwunderung, wenn er erleben muß, daß bei plastischen Lichtbildervorträgen mittels Anaglyphen vom Vortragenden versucht wird, auf einzelne bemerkenswerte Punkte der vorgeführten Bilder mit dem Zeigestab besonders hinzuweisen. Man sollte von Leuten, die Anaglyphen vorführen, eigentlich mit einigem Recht erwarten dürfen, daß sie wissen, daß jeder Zuschauer den betreffenden Raumpunkt ja an einem ganz anderen Ort im Raum sieht. Das hängt nämlich in diesem Fall ganz von dem Sitzplatz ab, auf dem der Betreffende sich befindet. Die Verwendung eines Zeigestabes ist also dabei nicht nur unangebracht, sondern sinnlos.

Dagegen ist es, was sehr oft bestritten wird, sehr gut möglich, zwei stereoskopisch aufgenommene Teilbilder auch ohne Zuhilfenahme eines eigenen Betrachtungsapparates mit bloßen Augen plastisch zu sehen. Dazu gehört nur einige Übung. Bei richtigem Abstand der beiden Teilbilder des Stereogramms untereinander und von der Augenlinie sind zu diesem Zweck die Sehachsen parallel zu stellen, das heißt mit anderen Worten: die beiden Augen blicken nicht wie sonst auf denselben Punkt, sondern jedes von ihnen betrachtet denselben Punkt auf den beiden Bildern, man schielt eigentlich nach außen. Anfangs bereitet dies einige Schwierigkeiten; die man dadurch vermindern kann, daß man zwischen beide Augen ein Blatt Papier als Trennungsfläche hält, wodurch jedes Auge notgedrungen zum selbständigen Sehen gebracht wird.

Auch durch Einwärtsschielen, also Kreuzen der Sehachsen, kann man plastisch sehen. Bei derartiger direkter Betrachtung müssen die beiden Teilbilder des Stereogramms natürlich vertauscht werden, denn das linke Auge, das das links aufgenommene Bild sehen muß, schielt ja so auf den Platz vor dem rechten Auge usw. Also muß in diesem Fall das links aufgenommene Bild rechts, das rechts belichtete links liegen.

Sehr oft findet man auch die Ansicht, zur guten stereoskopischen Bildwirkung gehöre nur ein sehr naher Vordergrund, der sich von, einem weit entfernten Hintergrund abhebt. Es ist richtig: wenn ich etwa ein Gipfelkreuz in den Bergen aus 10 m Entfernung aufnehme, das sich wirkungsvoll von einer 2 km entfernten Bergkette auf der anderen Talseite abhebt, dann ist schon Plastik in dem Bild. Aber diese Plastik ist wertlos, denn sie bezieht sich ausschließlich und allein auf den Vordergrund, das Kreuz. Der Hintergrund, die Bergkette, muß flach erscheinen wie auf jedem gewöhnlichen Bild auch, denn die Ursache der Plastik, die Parallaxe, fällt bei so großer Entfernung ;infolge des ;geringen Objektivabstandes weg. Die auf dem gewöhnlichen Wege erzielbare Räumlichkeit reicht nämlich kaum soweit wie die bei direktem Sehen erhältliche und das sind bloß etwa 200 m. Wir erhalten also in diesem Fall bloß eine einfache Kulissenwirkung, keine Plastik.

Wie oft sieht man stereoskopisch aufgenommene Aussichtsaufnahmen überhaupt ohne jeden Vordergrund! Oder solche, die mit gewöhnlichen Stereogeräten aus dem Flugzeug aufgenommen wurden! Aus dem gleichen Grund wie vorher sind beide zwecklos und beweisen bloß, daß ihre Verfertiger keine Ahnung von der Leistungsfähigkeit und den Leistungsgrenzen der Stereoskopie haben. Ich werde auf dieselben in einem späteren Aufsatz noch ausführlich zurückkommen.

Aus der Zeitschrift DAS RAUMBILD 1. Jahrgang, Heft 12 vom 15. Dezember 1935, Raumbildverlag Otto Schönstein, Dissen /Ammersee. Text überarbeitet von D. Schulte)