Stereoskopische Konstruktionen zur Einführung in die Stereoskopie

Das gezeichnete Stereogramm hat leider trotz zahlreicher Vorschläge noch nicht eine so verbreitete Anwendung gefunden, wie es auf Grund seiner überraschend guten Raumwirkung zu erwarten wäre. Zweifellos gibt es viele Gebiete, wo das konstruierte Stereogramm mit Vorteil angewendet werden könnte, und zwar ist es in erster Linie dort am Platze, wo es sich darum handelt, ein durch Grund-und Aufriß oder analytisch durch Eckpunktskoordinaten resp. Gleichung gegebenes Objekt so darzustellen, daß ein dem Objekte nach Form, Lage und Größe gleiches Raumbild bei der Betrachtung entsteht. Neben dieser praktischen Anwendung hat die konstruktive Stereoskopie die für den Stereoskopiker besonders interessante, bisher leider zu wenig beachtete Aufgabe, die Grundlagen der Stereoskopie an Hand des Versuchs zur Anschauung zu bringen und zur Klärung stereoskopischer Probleme beizutragen. Bereits M. v. Rohr weist in dem bekannten Werke „Die binokularen Instrumente" darauf hin, daß es eben der stereoskopischen Konstruktion vorbehalten war, zu Erkenntnissen zu führen, die den von der Photographie ausgehenden Stereoskopikern bis dahin völlig entgangen waren, und hebt weiter, an anderer Stelle sogar hervor, daß die Entwicklung der photographischen Verfahren neben der beabsichtigten Erleichterung leider auch eine bemerkenswerte Verflachung der Tätigkeit des Amateurs mit sich brachte.

Ganz ähnlichen Verhältnissen steht nun auch der Anfänger in der Stereoskopie gegenüber, sofern er, wie jetzt allgemein üblich, von der Photographie ausgeht. Dank der entwickelten Technik der photographisch-stereoskopischen Verfahren und seiner vielleicht schon vorhandenen photographischen Kenntnisse hat er sogleich Erfolge, die ihn zwar zu weiterer Tätigkeit ermutigen, ihn aber, ohne daß es ihm bewußt würde, dazu prädestinieren, an dem Wesen der Stereoskopie vorbeizugehen. Nach der Wahl eines geeigneten Standpunktes, der Belichtungszeit etc., ist er leicht geneigt, das so erhaltene Stereogramm als etwas Gegebenes hinzunehmen, zumal mit Erzielung der Rahmenwirkung und eventueller Retusche sich kein weiterer Anlaß findet, auf den Aufbau des Bildes näher einzugehen. Dazu kommt, daß die dem üblichen Stereobilde entsprechende Tiefenzone (vergl. Lüscher: Die Stereophotographie) von 3 m bis „unendlich" nur selten gut erkennbare Abweichungen vom normalen Stereoeffekt mit sich bringt, und zu dem noch die Undurchsichtigkeit des Halbtonbildes diese willkommenen Anregungen zu eingehender Beschäftigung mit den interessantesten Fragen der Stereoskopie meist zunichte macht.

Ganz anders liegen die Verhältnisse in der konstruktiven Stereoskopie. Durch stete Berücksichtigung der perspektivischen Konstanten bei Konstruktion und Betrachtung wird zunächst - bewußter als dies beim Photo-Stereogramm geschieht - die notwendige, allerdings nicht hinreichende Bedingung zur Erzeugung eines tautomorphen d. h. dem Objekt kongruenten Raumbildes erfüllt. Unter dieser Voraussetzung erweist sich dann die Arbeit in der stereoskopischen Nahzone etwa zwischen 0,4 und 1,5 m, deren Einhaltung schon aus zeichnerischen Gründen gegeben ist, als überaus lehrreich. Die hier schon an sich besonders markant auftretenden „stereoskopischen Anomalien" werden weiter durch die Klarheit und Übersichtlichkeit des auf konstruktivem Wege erhaltenen Raumbildes derart hervorgehoben, daß sich die einzelnen Fälle gewissermaßen selbst zur Diskussion stellen. Bei aufmerksamer Ausführung stereoskopischer Konstruktionen geeigneter Objekte erkennt dann auch der Anfänger, daß die Projektionstheorie des Raumbildes wenigstens in der elementaren rein geometrischen Form auch für die praktische Stereoskopie nicht ausreicht und sieht sich so veranlaßt, im weiteren Verlaufe der Konstruktion geometrische wie physiologische Erwägungen gleichermaßen zu berücksichtigen. Damit aber ist mit einfachsten Mitteln der entscheidende Schritt getan, schon bei Einführung in die Stereoskopie an Hand des Versuchs den geometrisch-physiologischen Charakter der Stereoskopie bewußt in den Vordergrund zu stellen. Zudem gibt diese Methode einmal dem Liebhaber die Möglichkeit, sich schon vor dem Erwerb eines Aufnahmegerätes mit der Stereoskopie vertraut zu machen, zum anderen ist auch dem Fortschritt der Stereoskopie gedient, indem eine derartige Ausbildung des Amateurs wieder zu einer tieferen Anteilnahme an dem Gebiete selbst führt, so daß die „Freude am Bilde" nicht der einzige Pfeiler des Interesses bleibt.

An Hand weniger aber charakteristischer Konstruktionen wären so zunächst die für die Praxis wichtigen Fälle der Verschmelzungsstörungen, wie sie z. B. von Pulfrich und Oppel behandelt wurden, zu demonstrieren. Ferner wäre die Frage der Zuordnung entsprechender Bildelemente zu berücksichtigen und schließlich auf einige interessante Übungen über die Tiefenzone näher einzugehen. Zweckmäßig werden die Beispiele derart gewählt, daß sie gleichzeitig zur Demonstration des pseudostereoskopischen Effekts, sowie der Scheinbewegung des Raumbildes und einiger hier nicht weiter zu erörternder Erscheinungen geeignet sind.

Wesentlich ist dabei die Frage, welche Form der Darstellung gewählt wird. Naheliegend wäre z. B. die Ausführung im üblichen Stereoformat wie es von Steinhauser und Hugel, freilich für freiäugige Betrachtung, also unter Anwendung einer größeren perspektivischen Distanz d = 20 cm für stereoskopische Konstruktionen benutzt wurde. Ein Nachteil ist jedoch, daß bei diesen positiven Stereogrammen, wie sie in der konstruktiven Stereoskopie genannt werden, das Objekt stets hinter der Bildebene liegt, die Teilbilder also kleiner sind als das Sammelbild. Die dadurch bedingte exakte Ausführung läßt sich dann aber in den meisten Fällen nur auf dem Wege der Rechnung und durch Anwendung der Teil-Maschine erreichen. - Ein interessanteres Argument gegen die Verwendung des üblichen Stereoformates für die vorliegenden Zwecke ergibt sich noch aus folgender Überlegung. Betrachtet man Bild 1 oder 2 (zur Erlernung der freiäugigen Betrachtung besonders geeignet) indem man z. B. durch ein vertikal gehaltenes Kartonblatt jedem Auge nur das zugehörige Teilbild zugänglich macht, so erscheint bei Fixierung eines hinter der Bildebene angenommenen Punktes zunächst verschwommen das Raumbild des Körpers. Gelingt es nun ohne Änderung der Konvergenz auf die Bildebene zu akkomodieren, so resultiert ein scharfes Raumbild. Aber der nach der Projektionstheorie zu erwartende objektgleiche Raumeindruck tritt nicht ein, woran auch eine Beseitigung der unnatürlichen Trennung von Akkomodation und Konvergenz durch passende Lupen nichts ändert. Wäre nämlich die Berücksichtigung der perspektivischen Konstanten bei Konstruktion und Betrachtung eine hinreichende Bedingung zur Erzeugung eines tautomorphen Raumbildes, so müßte das dem Stereogramm 2 entsprechende Raumbild bei einem Betrachtungsabstand von 20 cm der Berechnung gemäß ca. 66,7 cm hinter der Bildebene erscheinen mit einem Durchmesser von etwa 20 cm. Es wird aber kaum einen Beobachter geben, dem Entfernung und Durchmesser nicht wesentlich kleiner erschiene. Der Grund liegt darin, daß zur Erzielung eines tautomorphen Raumbildes eine weitere und zwar physiologisch begründete Bedingung erfüllt sein muß. Nach den grundlegenden Arbeiten Herings ist nämlich die absolute Lokalisation eines Objektes d. h. seine Ortsbestimmung in bezug auf den Standpunkt des Beobachters nur möglich auf dem Umwege über die relativ zu dem Objekte lokalisierten übrigen Dinge des Raumes. Ein Vergleich des Stereogrammes 2 mit einem der üblichen Photo-Stereogramme zeigt denn auch, daß die Tiefengliederung des Raumes zwischen Beobachter und Objekt nicht nur, wie vielfach angenommen, den Reiz des Bildes erhöht, sondern zur Erzielung eines einwandfreien d. h. richtigen Raumbildes durchaus notwendig ist, sofern nicht, wie das zwar bei Photo -Stereogrammen meist der Fall ist, sekundäre Lokalisationsmomente, z. B. scheinbare Größe bekannter Objekte, die Orientierung erleichtern. Für die konstruktive Stereoskopie ergibt sich daher die interessante Folgerung, daß die tautomorphe Wiedergabe eines Objekts der Nahzone bei Anwendung des üblichen Stereoformates unmöglich ist und zwar nicht etwa wegen der bekannten geometrischen Verhältnisse, wie sie im Falle einer reduzierten Basis bei Stereonahaufnahmen vorliegen, sondern aus der physiologisch begründeten Tatsache, daß die zur absoluten Lokalisation erforderliche Tiefengliederung der geringen Tiefenzone wegen nicht durchführbar ist.

Es ist also ein wesentliches, bisher scheinbar nicht behandeltes Problem der konstruktiven Stereoskopie, die zur absoluten Lokalisation hier unbedingt erforderliche Tiefengliederung herbeizuführen, ohne die geringe meist schon vom dargestellten Objekte ausgefüllte Tiefenzone zu überschreiten. Eine korrekte Lösung dieser Frage ergibt sich aus der Wahl solcher Darstellungsmethoden, welche gestatten, das Raumbild in der unmittelbaren Umgebung reeller Objekte zu erzeugen, die während der Betrachtung beiden Augen zugänglich bleiben. Diese Bedingung wird z. B. von dem sogenannten negativen Stereogramm Bild 3 erfüllt, bei dem das linke Teilbild dem rechten Auge und das rechte dem linken Auge zugeordnet ist und daher das Sammelbild vor der Bildebene entsteht. Akkomodiert man unter Einhaltung der Distanz d = 76,9 cm auf die Bildebene, während die Konvergenz auf die Spitze eines in 41,4 cm Entfernung gehaltenen Bleistiftes gerichtet ist, so erscheint das Raumbild in seiner Lage und Größe so eindeutig bestimmt, daß es mit der Spitze des Bleistiftes abgetastet oder mit dem Zirkel vermessen werden kann. Obwohl diese Methode noch den Vorteil hat, daß die Teilbilder in der Größe nicht beschränkt sind und daher nach Steinhausers Vorschlag als stereoskopische Wandtafeln ausgeführt werden können, so wird doch die Verwendbarkeit durch zwei nicht unerhebliche Nachteile eingeschränkt. Es ist nämlich einmal, wie aus der Konstruktion des Strahlenganges leicht ersichtlich, der Durchmesser des Sammelbildes stets kleiner als die stereoskopische Basis, weshalb nur Objekte mit kleinerem Durchmesser als 6,5 cm dargestellt werden können, zum andern wirkt die Trennung der Akkomodation von der Konvergenz bei längerer Betrachtung ermüdend auf das Auge.

Die konstruktive Stereoskopie wird sich daher in erster Linie auf solche Darstellungsmethoden stützen müssen, die eine Zuordnung reeller Objekte zum Raumbilde ohne die eben erwähnten Nachteile ermöglichen. Es sind das jene Verfahren, bei denen die Bildebene das Raumbild schneidet, wodurch die Trennung von Akkomodation und Konvergenz auf einen praktisch zu vernachlässigenden Betrag herabsinkt und ferner die Objektgröße nur noch von der Tiefenzone abhängt, also als Funktion der absoluten Entfernung in gewissen Grenzen eben, durch Variation der Entfernung beliebig gewählt werden kann. Bei diesen Verfahren taucht freilich das alte und durch die Arbeiten am stereoskopischen Film gegenwärtig wieder aktuelle Problem der Zweibildstereoskopie auf, in möglichst einfacher Weise überlagerte Halbbilder dem Beobachter so darzubieten, daß jedem Auge nur das entsprechende Halbbild sichtbar wird. Neben einer wenig bekannten Modifikation der Parallaxstereoskopie, die eventuell für stereoskopische Konstruktionen mit Vorteil zu verwenden wäre, ist daher die Methode der Anaglyphen gegenwärtig die geeignetste Darstellungsform für die konstruktive Stereoskopie. Von der Weiterentwicklung dieses Verfahrens durch Anpassung an die durch die Zeichnung gegebenen Verhältnisse, sowie vor allem durch Steigerung der Bildkontraste hängt demnach auch in hohem Maße die Verwendung stereoskopischer Konstruktionen für spezielle Zwecke zur Illustration von Lehrbüchern usw. ab. Die Unzulänglichkeit des meist angewandten positiven Stereogramms für diese Zwecke läßt sich nochmals und zwar noch eindringlicher demonstrieren, indem man ein nach Größe und Lage fixiertes Objekt einmal durch ein positives Stereogramm und dann in der angegebenen Weise als Anaglyphe darstellt. Ein Vergleich läßt über den enormen Unterschied der Raumbilder nach Lage und Größe keinen Zweifel mehr bestehen.

Wenn auch die mit der Anaglyphenmethode erreichbare Halbbildtrennung noch nicht vollkommen befriedigt, so ist doch durch eine Änderung des Verfahrens bereits die Möglichkeit gegeben, mit einfachen, wohlfeilen Mitteln kontrastreiche Raumbilder darzustellen, die den theoretischen Forderungen in hohem Maße genügen. Damit aber kann die konstruktive Stereoskopie -. mangels sekundärer Lokalisationsmomente eben die klassische Form der Stereoskopie - die bisher viel zu wenig beachtete Aufgabe erfüllen, solide Grundlagen für eine ersprießliche Arbeit mit der Stereokamera zu vermitteln.

Aus DAS RAUMBILD 1. Jahrgang, Heft 1 vom 15. Januar 1935. C. Calov, Berlin. Text überarbeitet von D. Schulte)