DIE VIEW-MASTER STEREOSKOPIE

Zu den schönsten und in vielen Übersetzungen stets gern gelesenen Jugendbüchern gehören zweifelsohne „Die Abenteuer des Tom Sawyer", die zusammen mit jenen des Huckleberry Finn in zwei von Walter Trier illustrierten Ausgaben kürzlich beim Droemer-Verlag in München neu erschienen. Die daraus berühmt gewordene Geschichte von Tante Polly und ihrem Gartenzaun ist gar als Gleichnis neuerdings in die hohe Politik eingegangen, und die Streiche und Fährnisse des nun 75jährigen Tom Sawyer muten auch heute noch alles andere als verstaubt oder etwa konstruiert an.

Ganz wesentlich jünger, trotzdem aber schon fast ebenso bekannt ist die Figur des Sam Sawyer (sprich Sojer), der als jugendlicher Held von heute die abenteuerlichsten Geschichten mit Piraten auf Fliegenden Untertassen, mit Mondbewohnern oder Menschenfressern im dunkelsten Afrika zu bestehen hat. Diese Wagestück sind zudem nicht allein nachzulesen, sondern farbig-räumlich in Stereobildserien zu besehen, die von der Firma Sawyer als realem Namensvetter jener Hauptfigur des Mark Twainschen Jugendbuches seit einigen Jahren herausgegeben werden. Sie gehören zu einem runden Halbtausend farbiger Stereobildserien, die unter dem Namen „View-Master" in Übersee eine bemerkenswert große Verbreitung fanden und nun auch in Deutschland alt und jung begeistern.

Das Neue und Bemerkenswerte dieser „View-Master“ Stereoskopie ist die Zusammenfassung von jeweils 7 Stereobildpaaren auf. einer Kartonscheibe, die damit ohne jedesmaliges Auswechseln die Betrachtung ganzer „Siebener-Serien' von Stereobildern hintereinander ermöglicht. Den Abenteuern des Sam Sawyer stehen dabei Cowboy-Geschichten, Märchen und Bilder aus der Religionsgeschichte, Landschafts- und Reisebilder aus aller Welt zur Seite, und bis zu den Festspielen in Oberammergau, Blumen und Blüten, Menschen und Tieren gibt es kaum ein Thema, das nicht schon als View-Master-Bildscheibe behandelt worden wäre. Ein ebenso pfiffig gebautes wie einfach zu handhabendes Stereoskop dient zum Betrachten des durchweg farbigräumlichen Bildmaterials, und ein umfangreiches Zubehör - vom elektrischen Beleuchtungsansatz bis zur geschmackvollen Aufbewahrungskassette - macht die View-Master-Stereoskopie zu einem vollkommenen Gegenstand der Unterhaltung wie der Belehrung.

Stehen heute mehr als 3500 Farbstereo Bildpaare verlags- und serienmäßig zur Verfügung, so bedauerten die Aktiven" unter den View-Master-Freunden aber doch schon seit langem, den ausgezeichneten, jedoch „unpersönlichen" Bildern nicht auch eigene, „persönliche" Aufnahmen hinzufügen zu können. Für alle diese wurde nun die View-Master Stereokamera geschaffen, die in Verbindung mit einem besonderen Stanzgerät den üblichen Kleinbildfilm in bisher nicht bekannter Weise ausnutzt und sozusagen automatisch in View-Master Leerbildscheiben aufteilen läßt. Das diese Stereokamera tatsächlich eine ganze Reihe völlig neuartiger Raffinessen in sich birgt, ermöglicht denn auch ihre Benutzung sogar durch absolute Laien - es kann einfach nichts verkehrt gemacht werden. Ein eingebauter Belichtungswähler läßt sogar bei Farbfilm die oft so mißliche Klippe der richtigen Einstellung von Blende und Verschluß glücklich umschiffen, und eine sorgfältig durchdachte Kupplung aller „lebenswichtigen“ Kamerateile schließt verkehrte Handhabung praktisch aus.

Das ganz Besondere dieser ersten Stereokamera für das Kleinstformat aber sind ihre verschiebbaren Objektive. Der, vorzugsweise farbige Kleinbildfilm in den handelsüblichen Tageslichtpatronen wird nämlich zuerst nur in seiner unteren Hälfte belichtet, dann werden die Objektive durch einen einfachen Handgriff um die halbe Filmhöhe nach oben verschoben, und beim Rückspulen des Films wird nun die andere Filmhälfte belichtet. Auf diese Weise ergibt sich die doppelte Anzahl. von Bildpaaren als sonst von Einzelbildern - aus einer 20er-Patrone beispielsweise erhält man 40 bzw. 39 stereoskopische Bildpaare - die damit auch preislich eher erschwinglich sind.

Wie diese jeweils nur 11 x 12 mm großen Miniaturbildchen „narrensicher“ auf nahezu simpel anmutende Weise in Bildscheiben der Serienausmaße gefaßt und damit der Stereobetrachtung zugänglich gemacht werden, ist ungleich schwerer zu beschreiben als auszuführen. Das oft so mißliche Pusselspiel der Stereobildmontage ist hier wirklich ein Kinderspiel, dessen “Regie" beim Zusammenstellen von Bildserien mit fortlaufender „Handlung“ auch dem Griesgrämigen Freude bereitet. Und wer endlich auch Familie und Freunde an der View-Master Stereoskopie gleichzeitig teilhaben lassen will, kann Serien- wie Eigenbilder- sogar projizieren. Der “View-Master" ist also tatsächlich das, was sein englischer Name ausdrückt: ein “Sehmeister” im wahrsten Sinne des Wortes im wahren Sinne des Wortes. 

Quelle: Photo-Journal 1953, Dieter Schulte